Rosen oder Adler? Von der Lust, Haushaltsgüter zu produzieren

Rezension

Cover zu Keuschnigg, Das Bestseller-Phänomen für Rezension

Was ist ein Bestseller? Eine „Buchneuerscheinung mit hohen Verkaufszahlen“, die „in Rangordnungen erfasst durch Medien und an Verkaufsorten kommuniziert wird und insgesamt einen großen Einfluss auf die gesamte Buchbranche ausübt“, so der Autor, der den Begriff gleich problematisiert: Korrekt müsse man von „Betterseller“ reden, schließlich könne es zeitgleich und im selben Genre mehrere Bestseller geben.

Wie lässt sich so ein Verkaufserfolg erklären? Und verkaufen sich die „besten“ Bücher auch am besten? Setzt sich der „beste“ Anbieter durch?

Was unser Erfahrungswissen nahelegt, fasst der Autor in sozialwissenschaftliche Begriffe: Es bestehe kein zwingender Zusammenhang zwischen Qualität und Erfolg, „stattdessen resultiert die hohe Erfolgsungleichheit aus einer weitgehend qualitätsunabhängigen Konformität im Nachfrageverhalten“.

In acht Kapiteln vom „Makrophänomen“ bis zur „Verbreitung von Büchern“ wird das Thema systematisch entwickelt. Nach grundsätzlichen Ausführungen zum deutschen Buchmarkt folgen zunächst ein Theorieteil über Konsummodelle und Markteffekte, dann die empirische Analyse.

Gegenstand der Studie sind Hardcover-Neuerscheinungen aus der Belletristik: 798 Titel der wöchentlich ermittelten deutschen Top 50 aus den Jahren 2001 bis 2006. Sie liefern die Datengrundlage für die Studie, deren Ziel es ist, festzustellen, welcher Mechanismus das Nachfrageverhalten im Buchmarkt besser abbildet – der Rosen- oder der Adler-Mechanismus.

Ersterer beschreibt Marktprozesse, bei denen „vollständig informierte Akteure mit strikter Qualitätspräferenz den besten Anbieter wählen“, also ohne soziale Beeinflussung durch andere Marktteilnehmer. Dagegen resultiert beim zweiten Modell „unvollständige Information vor dem Kauf in einer grundlegenden Entscheidungsunsicherheit für Nachfrager“; diese wird durch Konformität (mit anderen Lesern oder eigenem früheren Leseverhalten) reduziert. Dabei können auch Angebote mit mangelnder Qualität von „kumulativen Popularitätsvorteilen“ profitieren und zu Bestsellern werden.

Die Ergebnisse der Studie geben im Wesentlichen Adler recht. Dreh- und Angelpunkt dabei ist die geringe Markttransparenz, wie sie typisch ist für einen sozialen Markt, in dem Nachfrageverhalten und soziale Umwelteinflüsse voneinander abhängen. Bücher erscheinen hier als Erfahrungsgüter, ihre Qualität, ihr Nutzen erschließt sich erst nach dem Konsum. Sie sind zugleich hedonische Güter, die Lektüre soll Spaß machen. Der Leser verfolgt das Ziel eines größtmöglichen Konsumnutzens. Aber wie lässt es sich erreichen?

Je höher das Vorwissen, desto geringer das Risiko, enttäuscht zu werden, und desto größer der Konsumnutzen, so lautet die Prämisse. Relevante Zusatzinformationen schaffen Transparenz und reduzieren damit die Entscheidungsunsicherheit. Bei schlechter Informationslage sind die „Suchkosten“ für den potenziellen Käufer hoch. Dem wirken Bestsellerlisten, Medienberichte oder Mundpropaganda entgegen, sie dienen der schnellen Orientierung. Und je populärer ein Buch ist, desto mehr Zusatzinformationen sind verfügbar. Der Anreiz für den Käufer, sich an bestehenden Nachfragemustern zu orientieren, wächst. Aktueller Erfolg produziert weitere Popularität: der Matthäus-Effekt („Denn wer da hat, dem wird gegeben werden … “).

Andere Faktoren, die das Kaufverhalten bestimmen, sind die individuellen „Opportunitätskosten“ (tw). Sie entsprechen dem in der Lesezeit entgangenen Arbeitslohn und fallen zusätzlich zum Ladenpreis (p) an. Aus der Summe ergeben sich die gesamten Konsumkosten, der Schattenpreis (c): c = p + tw. „Das preiswerte Marktgut wird durch Investition teurer Konsumzeit zum wertvollen Haushaltsgut.“ In der Sprache der Literaturökonomik bedeutet lesen also: das Haushaltsgut Lektüre produzieren. Gelesene Bücher sind Konsumkapital und erhöhen die Produktivität des Lesers, seine Lese- und Genussfähigkeit. Hohe Opportunitätskosten führen dazu, dass kürzere, teurere und (vor allem aufgrund von mehr Vorwissen) bessere Bücher gekauft werden, meint der Autor. Interessanter Aspekt.

Es geht viel um Handlungskonformität, auch im Zusammenhang mit dem Herdenmodell, bei dem der Informationsbedarf der Akteure das auslösende Moment für Imitation ist. Blindes Herdenverhalten oder eine Informationskaskade liegt vor, wenn sich alle Akteure einer Gruppe dem Verhalten ihrer Vorgänger anschließen, statt sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir kennen das.

Fazit: Die Lektüre hat mir großen Spaß gemacht und ungewohnte Perspektiven auf ein vertrautes Gebiet eröffnet. Wer keine Absätze überspringt und den „logarithmierten beobachteten Verkaufserfolg von Buch i“ mittels Formeln und Funktionen nachvollziehen möchte, dabei weder Gini-Koeffizienten noch Schwellenwertdynamiken scheut, wird dieses Buch mit noch mehr Gewinn lesen.

Wissenschaftlich untermauert bleibt die Gewissheit bestehen, dass Bestseller nicht planbar sind. Wie der Autor bereits eingangs zitiert: „Der Erfolg eines hervorragenden Buches nämlich ergibt sich aus einer unendlichen Zahl von verständlichen oder wunderlichen Umständen, die auch bei allem Scharfsinn des forschenden Verstandes nicht voraussehbar sind.“ (Denis Diderot)

Marc Keuschnigg, Das Bestseller-Phänomen. Die Entstehung von Nachfragekonzentration im Buchmarkt. Wiesbaden: Springer VS, 2012, 419 Seiten, 49,95 EUR (als E-Book 44,99 EUR), ISBN 978-3-531-93499-0

(zuerst veröffentlicht auf www.vfll.de/rezensionen)

Weitere Rezension zum Thema: „Was Bücher erfolgreich macht: mehr als Buschfunk und Fata Morgana?“. Haug/Kaufmann (Hrsg.), Bestseller und Bestsellerforschung

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