Rezension: Schneider, Punk statt Putin. Gegenkultur in Russland

»Россия будет свободной«

Cover zu Schneider, Punk statt Putin für Rezension

Norma Schneider hat mit Punk statt Putin ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Darin erzählt die freie Journalistin, Autorin und Lektorin davon, wie es um die Protestkultur in Russland unter Putin steht. Und das ist mindestens so spannend wie bedrückend.

Mainstream als Angriffsziel

Was ist Gegenkultur? Die Autorin versteht darunter die »verschiedensten künstlerischen Formen, die sich gegen den Mainstream und gegen das von staatlicher Seite Gewollte richten, es kritisieren oder zumindest herausfordern«. Die Definition ist bewusst offengehalten und reicht von der Punk- und Undergroundszene bis hin zu etablierten Schriftsteller*innen; es umfasst die »vielen interessanten und herausfordernden Formen und Inhalte, die oppositionelle Künster*innen in Russland erzeugen, und ihr[en] kreative[n Umgang mit einer Lage, die ziemlich verzweifelt ist.«

Im ersten Teil geht es um den politischen und kulturellen Mainstream als Angriffsziel der Gegenkultur. Dieser beinhaltet im Kern eine Abwertung des »Westens« als Synonym für Demokratie, Liberalismus und Diversität; demgegenüber steht das Bild von Russland als militärisch und kulturell überlegene Großmacht, die die »traditionellen Werte« heroisch verteidigt. Eine Pseudoideologie, die über Schlagworte funktioniert, wie den Kampf gegen den Faschismus, der auch als Vorwand für den Überfall auf die Ukraine herhalten muss. Zur neuen Erzählung gehört, dass Russland sich als »Verteidiger eines ›eigentlichen‹, besseren Europas« inszeniert, in dem christlicher (orthodoxer) Glaube, Nationalstolz, Heterosexualität und Gemeinschaftsgefühl im Sinn von Anti-Individualismus gepflegt werden. Politische Stabilität rangiert an erster Stelle, insofern muss jede Kritik am Staat, jedes Infragestellen des Status quo unterbunden werden. Demokratische Mitwirkung, die über die Bestätigung der Regierung in Wahlen hinausgeht, ist unerwünscht.

Analog dazu haben auch Kunst und Kultur die Funktion, »ein patriotisches Kollektiv zu schaffen, von dem so wenig abweichendes Verhalten wie möglich zu erwarten ist«; sie sollen der »zivilisatorischen Identität des Landes« dienen, wie es auch die 2014 formulierten »Grundlagen der staatlichen Kulturpolitik« fordern.

Bereits vor dem 24. Februar 2022 herrschte durch staatliche Willkür und beliebig auslegbare Gesetze ein Klima der Verunsicherung, dem viele Kulturschaffende mit Vorsicht und Selbstzensur begegneten. Wer wann als »ausländischer Agent« eingestuft und sanktioniert wurde, schien unberechenbar. Nach dem Überfall auf die Ukraine verschärfte sich die Lage auch für oppositionelle Künstler*innen. Sie gingen entweder ins Exil, sitzen im Gefängnis oder agieren im Verborgenen, in der Anonymität, »unter dem Radar des Regimes«.

Musik und Widerstand

Der zweite Teil soll einen Eindruck von der Vielfalt der russischen Gegenkultur vermitteln, soweit es Musik und Literatur betrifft. (Andere Kunstrichtungen werden nur gestreift.)

Passend zum Titel des Buchs widmet Norma Schneider der Punkszene in Russland viel Raum. Sie betont jedoch, dass die heutige queere Technoszene wesentlich rebellischer ist und dass die Ravekultur eine »Schnittstelle zwischen Musik und anderen Formen von oppositioneller Kunst« darstellt. Im Gegensatz dazu dient manches aus der subversiven Rockmusik der Perestroika-Zeit, wie der von Viktor Zoi und seiner Kultband Kino, inzwischen auch der Kriegspropaganda.

Es geht um die Anfänge des russischen Punk in den 1980er-Jahren und um Pussy Riot als Protestkollektiv. Zu den bekanntesten Vertretern gehört die 2008 gegründete Band Pornofilmy, die wegen ihrer mutigen Anti-Kriegs- und Anti-Putin-Texte mittlerweile im Ausland leben und sich von dort aus für die Unterstützung der Ukraine einsetzen.

Feminismus ist ein großes Thema in der Punkszene. Die Aktivistinnen treten für Frauenrechte und die »Zerstörung des Patriarchats« ein und wollen eine Community aufbauen, in der gegenseitige Unterstützung möglich ist. Beispiele sind Bands wie Lono oder Ona.

Norma Schneider stellt das Duo IC3Peak mit seinen provokativen, kunstvoll inszenierten Videos vor, das experimentelle elektronische Musik mit aktuellen politischen Themen verbindet. Auch die Musikerin und Aktivistin Bogolepov macht elektronische Musik. Sie lebt seit 2017 in Berlin und engagiert sich politisch unter anderem für Queeramnesty. Weitere Musiker*innen mit einer Auswahl von Protestmusik seit dem 24. Februar 2022 erscheinen in einem Unterkapitel auf einer »Playlist gegen den Krieg«.

Literatur im Underground

Die Literatur spielt für die Gegenkultur eine ähnlich wichtige Rolle wie die Musik, so die Autorin. Sie verbindet ebenfalls »Gleichgesinnte in subkulturellen Szenen, die zum Selbstverständnis einer Undergroundkultur beitragen«. Und die Autor*innen knüpfen dabei an eine lange Tradition oppositioneller politischer Literatur und experimenteller, avantgardistischer Texte an. Einige von ihnen, wie Vladimir Sorokin, sind etabliert, aber die meisten bleiben in der russischen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Schneider weist darauf hin, dass große Verlage in der Regel keine kritische Literatur veröffentlichen. »Die große Mehrheit der veröffentlichten Bücher behandelt keine kontroversen Themen, sie sind entweder in politischer Hinsicht harmlos und bieten bloßen Eskapismus oder sie romantisieren die Realität und verfestigen bestimmte gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen.« Dazu zitiert sie den Romanautor Sergej Lebedew mit den Worten, für ihn bestehe die russische Gegenwartsliteratur aus ungeschriebenen Büchern.

Dennoch gibt es inzwischen ein Netzwerk aus unabhängigen Verlagen, die teilweise an Buchläden angegliedert sind, etwa Popcorn Books/individuum in Moskau. Zu ihrer Überlebensstrategie gehört es, die Publikationen nicht offensiv zu bewerben, sondern mit den kritischen Inhalten im Vagen zu bleiben. Das funktioniert, solange die Bücher keine allzu große Aufmerksamkeit erregen. Doch mit dem unverhofften Verkaufserfolg einer queeren Liebesgeschichte 2021 alarmierten der Verlag und die Autorinnen die Gegner auf allen Ebenen. Im Ergebnis wurde das Gesetz gegen die »Propaganda nichttraditioneller Beziehungen« verschärft, und die Autorinnen verließen nach massiven Drohungen das Land.

Unter diesen Bedingungen weicht die Literatur aus, wie zu Zeiten von Samisdat [wörtl.: Selbstverlag]. Und so erscheinen kritische Texte überwiegend in Nischen jenseits des Literaturbetriebs, etwa in Zines, Blogs, Telegram-Channels und auf DIY-Festivals.

Ausführlicher werden drei Autor*innen vorgestellt, es sind neben Vladimir Sorokin die tatarische Independent-Autorin Dinara Rasuleva sowie der anarchistische Lyriker und Journalist Pasha Nikulin. Auch dieses Kapitel schließt mit einer Liste: Schneider beschreibt oppositionelle, in deutscher Übersetzung vorliegende Werke von neun Autorinnen udn Autoren, unter ihnen Viktor Jerofejew, der Anfang August 2023 in Abwesenheit zu acht Jahren Straflager verurteilte Dmitry Glukhovsky und die Pussy-Riot-Aktivistin Mascha Alechina.

Hoffnung trotz Repression

Was trägt das Internet zur Gegenkultur in Russland bei? Trotz Sperrung einzelner sozialer Medien, die sich aber umgehen lässt, ist der Onlineaustausch von Texten, Bildern und Videos entscheidend für das Weiterbestehen und -verbreiten oppositioneller Inhalte. Es gibt YouTube-Kanäle mit teilweise über 30 Millionen Aufrufen, Telegram und TikTok werden genutzt und vor allem das zwar staatlich überwachte, aber in Russland meistverbreitete soziale Netzwerk VKontakte. Auch hier gilt es für die Aktivist*innen, unter dem Radar zu agieren, um Repressionen zu entgehen.

Zum Schluss fragt die Autorin, wie Gegenkultur im Exil und im Verborgenen weiterbestehen kann. Zwar gibt es Netzwerke oppositioneller russischer Künstler*innen im Ausland, aber für einzelne von ihnen ist es schwierig, sich zu artikulieren, weil es an Unterstützung fehlt. Dennoch halten Stimmen wie die von Bogolepov die Hoffnung aufrecht, Russland werde frei sein: »Rossija budet swobodnoi«.

Fazit

Mit den ersten Recherchen für dieses Buch hat Norma Schneider in der Zeit nach dem »Punkgebet« von Pussy Riot 2012 begonnen. Sie wollte verstehen, »was es bedeutet, politische Kunst zu machen in einem Land, in dem Menschen für mehrere Jahre ins Straflager gesperrt werden, weil sie einen Punksong in einer Kirche gesungen haben«.

Entstanden ist ein Einblick in die kleinteilige, vielfältige Protestkultur im Russland der Putin-Jahre, der notwendigerweise ausschnitthaft ist. Dennoch entsteht ein differenziertes Bild, an dem mir besonders die Bezüge zur politischen Geschichte des Landes gefallen. Sie stellen die Einzelbeispiele in einen historisch-gesellschaftlichen Kontext. Auch die klare, engagierte Sprache macht die Lektüre zu einem Gewinn.

 

Norma Schneider
Punk statt Putin. Gegenkultur in Russland
Ventil Verlag, 1. Aufl. April 2023
Broschur, 192 S., mit Abb. sw
ISBN 978-3-95575-202-6, 16,00 Euro

Danke für das Rezensionsexemplar an den Verlag.

Zurück