Rezension: Marja-Christine Sprengel, Der Lektor und sein Autor

Der »unsichtbare Zweite« im Rampenlicht

Cover: Sprengel, Der Lektor und sein Autor für Rezension

Der Autor und sein Verleger – so der Titel von Siegfried Unselds Vorlesungen über die Arbeit des literarischen Verlags und seinen Umgang mit Autoren. Marja-Christine Sprengel untersucht die Rolle des Lektors im Verhältnis zum Autor; damit richtet sie den Blick auf Personen, »die meist unbeachtet von der Öffentlichkeit die literarischen Veröffentlichungen betreuten, aber mit ihrer Arbeit in den wichtigsten Verlagshäusern maßgeblich das Bild der neueren deutschsprachigen Literatur bestimmten«. Im Kern geht es um die Jahre zwischen 1970 und 2000 und um die Praktiken einzelner Lektoren in den Verlagen Suhrkamp, Luchterhand und Piper.

Der Lektor als Mentor

Grundlage der Studie sind bisher unveröffentlichte Quellen aus den Verlagsarchiven, Vor- und Nachlässe von Autoren und Verlagsmitarbeitern sowie persönliche Gespräche mit Lektoren und Autoren.

Zur Auswertung der Archivalien wählt die Verfasserin einen interessanten Ansatz: Sie geht davon aus, dass der Lektor ähnlich wie ein Mentor agiert, und analysiert in ihren Fallbeispielen die Zusammenarbeit zwischen beiden Akteuren anhand eines Fragenkatalogs für Mentoring-Beziehungen. Dieser enthält fünf karrierebezogene und sechs psychosoziale Funktionen, zu denen jeweils Leitfragen formuliert werden. So hilft der coach dabei, mehr über den Literaturbetrieb zu erfahren, und counseling zielt darauf ab, dass der Autor Resonanz bekommt, »um sich selbst zu verstehen und zu entwickeln«.

»Trotz allem natürlich / Dein Jurek«

Im Hauptteil betrachtet die Verfasserin ausgiebig die »Lektorate für deutschsprachige Literatur im Suhrkamp Verlag«. Welche Funktionen die Lektoren im Einzelnen ausübten, hing von Persönlichkeit und Position des Lektors im Verlag ab, so Sprengels These. Dementsprechend skizziert sie jeweils den beruflichen Werdegang und die Verantwortungsbereiche des Lektors.

Den größten Raum nimmt Elisabeth Borchers ein, deren Korrespondenzen mit fünfzehn Autoren untersucht werden. Die Tätigkeit der berühmten Kollegin, die selbst ein umfangreiches Werk als Schriftstellerin und Übersetzerin hinterlassen hat, wird in zahlreichen Beispielen sichtbar. Ob bei der »Unterstützung neuer Autoren«, als »Lektorin fürs Leben«, bei der »Betreuung von Stammautoren im Dreiergespann Autor – Lektor – Verleger«, bei »einmaligen Projekten« oder als »professionelle Diskussionspartnerin«: Elisabeth Borchers hatte vielfältige Funktionen für ihre Autorinnen und Autoren. In der Beschreibung ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Jurek Becker etwa lässt sich das Schicksal einzelner Manuskripte verfolgen, aber auch die persönliche Nähe zwischen Lektorin und Autor, einschließlich Beckers Beschwerde über 37 Fehler in seinem ersten Suhrkamp-Buch. Sein Brief ist unterschrieben mit: »Trotz allem natürlich / Dein Jurek / aber das ist doch Scheiße.«

Bei Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän vollzieht sich die Arbeit vom ersten Lesen und Reflektieren durch die Lektorin bis zu inhaltlichen Diskussionen und konkreten Änderungsvorschlägen, die Frisch in der Druckfassung umsetzt.

Der Abschnitt zur »Lektorin als Autorin« zeichnet Elisabeth Borchers’ Literaturverständnis nach, die Grundzüge ihrer Poetik. Am Ende werden fünf Kriterien für gute Prosa genannt und sechs für Lyrik bei der Bewertung neuer Manuskripte; außerdem vier Bedingungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Autoren: literarisches Talent, Offenheit für die Resonanz des Lektors, der Wille zur Entwicklung und die Bereitschaft, inhaltliche Korrekturen selbst vorzunehmen.

Alter Ego und Chirurg

Die Lektoratsarbeit von Hans-Ulrich Müller-Schwefe umspannte über vier Jahrzehnte. Als »Unterstützer von neuen Autoren, Vermittler zwischen Autor und Verlag sowie Produktmanager« betreute er unter anderen Bodo Kirchhoff, der 1978 zu Suhrkamp kam. Von der ersten Korrespondenz bis zu Kirchhoffs Verlagswechsel rekonstruiert die Verfasserin, wie Müller-Schwefe seinen Autor konkret unterstützte. Bevor Parlando 2001 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschien, würdigte der Autor Müller-Schwefe als sein Alter Ego, »aber auch als Chirurg, der die Drainage zum Absaugen der vielen Flüssigkeit oder Feuchtigkeit vorbereitet (und natürlich als Freund […])«.

Wie Müller-Schwefe selbst seinen Beruf sah, formulierte er in einem 1986 veröffentlichten Text. Darin nannte er als Kriterien für publizierbare Manuskripte Radikalität, Situationsabstraktheit und Werkautonomie. Anhand der dokumentierten Zusammenarbeit mit Kirchhoff und acht anderen Autoren überprüft die Verfasserin diese Kriterien und findet sie bestätigt.

Christian Dörings Tätigkeit als Lektor im Suhrkamp Verlag lässt sich ebenfalls über eine lange Zeit nachvollziehen. Er setzte sich für Nachwuchsautoren ein, betreute erfahrene Autoren und war Produktmanager, wenn keine Textarbeit anfiel, wie bei dem 3000-Seiten-Werk Dessen Sprache du nicht verstehst von Marianne Fritz (ersch. 1985).

Zu seinen fruchtbarsten Lektoratsbeziehungen gehört wohl die Zusammenarbeit mit Marcel Beyer. Dessen Manuskript »Das Menschenfleisch« erreichte den Verlag über eine Agentur, und nachdem keine Reaktion kam, schickte es die Agentin ein Jahr später, 1988, an Christian Döring. Wie gut, dass sie hartnäckig war, denn Döring kontaktierte den erst 22-jährigen Autor. Drei Jahre später erschien der Roman und heute zählt Beyer zu den bedeutendsten deutschen Gegenwartsautoren (Georg-Büchner-Preis 2016).

Explizite Äußerungen von Christian Döring über seine Kriterien für die Qualität von Literatur führt die Verfasserin nicht an, aber Gutachten und Korrespondenzen entnimmt sie, dass er vor allem auf thematische Relevanz, sichere Stilistik, überzeugende Struktur und Originalität der Texte achtete.

Probebohrungen

Für den Vergleich von Lektoratspraktiken über die Verlagsgrenzen hinweg macht Marja-Christine Sprengel weitere »Probebohrungen zu Autor-Lektor-Beziehungen« in zwei Archiven.

Zunächst stellt sie die »Verlagsentwicklungen« im Luchterhand Literaturverlag seit 1954 dar, dann die »Lektoratsbetreuung von Günter Grass, Gabriele Wohmann und Helga M. Novak« und schließlich »Elisabeth Borchers’ Position«, die von 1960 bis 1971 bei Luchterhand tätig war und hier Grundsätze ihrer zukünftigen Lektoratsarbeit entwickelte. »Was sage ich: jedes zuviel macht verdächtig«, schreibt sie 1966 in der Kritik zu einem Gedicht von Volker Braun.

Auch die Entwicklung des 1904 gegründeten Piper Verlags wird kurz umrissen. Im Detail geht es um die »Lektoratsbetreuung von Ingeborg Bachmann, Gabriele Wohmann, Jürg Federspiel und Hilde Domin« und um Klaus Pipers Erwartungen an »seinen« Lektor, die der Verleger 1962 formulierte. Er solle »›aktiver Berater und häufig wichtiger textlicher Mitgestalter‹« sein. Die Verfasserin sieht darin eine Aufwertung der Lektoren, stellt aber fest, es habe »sich nie eine ähnlich eingeschworene Gemeinschaft der Lektoren wie im Suhrkamp Verlag« entwickelt. Gründe dafür seien, ähnlich wie bei Luchterhand, Umstrukturierungen, Inhaber- und Mitarbeiterwechsel.

Erfolgsformel

Was war entscheidend für gelingende Autor-Lektor-Beziehungen? Marja-Christine Sprengel nennt verschiedene Faktoren, in erster Linie »Beständigkeit in der Betreuung« und Ebenbürtigkeit. »Die Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum erwies sich insbesondere dann als fruchtbar, wenn der Autor das Gefühl vermittelt bekam, respektvoll behandelt zu werden und gemeinsam mit dem Lektor am selben Ziel zu arbeiten.«

Die Verfasserin kommt zu dem Ergebnis, dass im betrachteten Zeitraum maßgeblich die Lektoren durch ihre Persönlichkeit und ihre Arbeitsweise beeinflussten, welche Autoren im Verlag publiziert wurden. Zum Stichwort Suhrkamp-Kultur heißt es: Sie »scheint tatsächlich eher zufällig entstanden zu sein: Nicht aufgrund von gezielten Vorgaben des Verlegers, sondern aufgrund seiner Lektoren, die bestimmte Autoren um sich versammelten.«

Fazit

Diese wissenschaftliche Arbeit liefert einige spannende Aussagen zum Literaturbetrieb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch das »Prisma« individueller Praktiken erlaubt sie Einblicke in die Werkstatt des Lektorats und spart dabei Konflikte im Verhältnis zwischen Lektor und Autor nicht aus. Eine gelungene Ergänzung von Ute Schneiders Gesamtdarstellung zur Berufsgeschichte des Lektors, des »unsichtbaren Zweiten«.

 

»Schreiben ist keine Bitte um mildernde Umstände. Da haben die Fetzen zu fliegen, Rücksichten hierbei sind fast immer falsche Rücksichten, und ich verfüge über keinen falschen Hals, in den ich Kritik kriegen könnte […]«
Jurek Becker an Elisabeth Borchers, 8.6.1972

 

Marja-Christine Sprengel
Der Lektor und sein Autor. Vergleichende Fallstudien zum Suhrkamp Verlag
Buchwissenschaftliche Beiträge 94
Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2016
Paperback, 302 S.
ISBN 978-3-447-10653-5, 68,00 Euro

 

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