Interview zum Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden

Manuel Illi über die Pluralität von Literatur

Gerade wurde zum 27. Mal der Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden vergeben, der sich an den literarischen Nachwuchs richtet. Eine prima Gelegenheit, meinem Jurykollegen Manuel Illi ein paar Fragen zu stellen:

Inwiefern beschäftigst du dich beruflich mit Sprache und Literatur?

Ich arbeite als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg und lese, bearbeite und vermittle daher tagtäglich Literatur. Der eine Schwerpunkt ist hierbei die Forschung – ich beschäftige mich zum Beispiel mit dem Konnex von Literatur und Wissenschaften, politischer Lyrik und ethischen Fragestellungen; der andere Schwerpunkt ist die Arbeit mit literarischen Texten in Seminaren und Workshops.

Wie wurdest du auf den Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden aufmerksam?

Den Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden habe ich vor ungefähr zehn Jahren durch Hinweise von Freunden entdeckt, die selber literarisch schreiben. Ich kann mich noch an die Preisverleihungen in der Villa Leon erinnern und fand es damals schon sehr schön, dass junge Autorinnen und Autoren eine Möglichkeit haben, ihre Texte einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen.

Folgst du als Jurymitglied bei der Bewertung der Texte einem bestimmten Prozedere?

Ich würde sagen: ja und nein. Bei der professionellen, literaturwissenschaftlichen Arbeit spielen wertende Aspekte eine nachgeordnete Rolle. Als Literaturwissenschaftler beschäftige ich mich zunächst »neutral« mit Texten und unabhängig davon, ob sie mir oder anderen Leserinnen und Lesern gefallen oder gefallen könnten. Wenn ich beispielsweise das Horst-Wessel-Lied auf seinen politisch-gesellschaftlichen Gehalt hin untersuche, muss ich meine Abneigung gegen das Regime und die Ideologie, die es repräsentiert, zunächst zurückstellen. Wenn ich ein Gedicht von Kurt Tucholsky betrachte – ein Autor, den ich sehr schätze –, darf mich meine Vorliebe nicht blind für ggf. vorhandene Widersprüche des Textes machen. Es geht jeweils weniger darum festzustellen, ob ein Text qualitativ gut oder schlecht, »ansprechend« oder »ergreifend« ist, sondern um literaturhistorische, ‑soziologische oder ‑theoretische Erschließung. All das lässt sich ziemlich gut methodisch-systematisch gestalten.

Die für den Literaturpreis der Kulturläden eingereichten Texte lese ich anders – zum einen weil sie mir anonymisiert vorgelegt werden, zum anderen weil ich als Jurymitglied dazu aufgefordert bin, sie nach verschiedenen qualitativen Aspekten vergleichend zu bewerten. Hierbei stelle ich eine Reihe von Fragen an den jeweiligen Text, etwa: Wie anspruchsvoll ist das gewählte Thema/Genre? Wie originell ist die Umsetzung?

Was ist dir dabei besonders wichtig?

Besonderes Augenmerk lege ich auf die sprachlich-handwerkliche Qualität eines Textes. Spontan fällt mir kaum ein literarischer Text von literaturhistorischer Bedeutung ein, der nicht auch handwerklich solide gemacht wäre. Das betrifft beispielsweise narrative Verfahren wie die Perspektivierung, den Handlungsaufbau oder sprachlich-rhetorische Formung. Dabei ist es mir nicht so wichtig, ob tradierte Muster gekonnt erfüllt werden, sondern wie sich das Verhältnis von sprachlicher Form und Inhalt gestaltet (auch wenn man genau genommen beides nicht voneinander trennen kann). Literatur ist der Ort, wo Themen angesprochen werden können, die anderswo keine oder nur eingeschränkte Berücksichtigung finden. Es ist eben etwas anderes, ob ein Suizid in journalistischer oder literarischer Sprache Darstellung findet. Ich nenne das das »literarische Potenzial« von Texten und das ist mir besonders wichtig. Dabei muss der inhaltlich-thematische Kern nicht immer neu sein – es ist auch durchaus möglich, in einem abgegriffenen Genre wie der Vampirerzählung etwas Spannendes und Interessantes zu schaffen, nur darf man dann nicht bei Klischees und Phrasen seine Zuflucht suchen.

Woran misst du die Qualität eines literarischen Texts?

Meiner Ansicht nach gibt es nicht die eine alles entscheidende Qualität eines literarischen Textes – das ist ganz ähnlich wie beim Umgang mit Freunden. Wir schätzen die ruhige, ausgleichende Art des einen Freundes und gleichzeitig die wilde Spontaneität des anderen; da gibt es kaum »absolute« Qualitäten. Auch die literarischen Qualitäten von Texten sind derart unterschiedlich: Kafkas Erzählungen unterlaufen gekonnt jegliche Lese- und Rezeptionsstrategie, Musil erklimmt mit dem Mann ohne Eigenschaften Gipfel der essayistischen Reflexion, Domins Gedichte graben in den Tiefen menschlichen Erlebens. Zudem vereinen Texte häufig mehrere derartige Qualitäten in sich, die schwer gegeneinander abzuwägen sind: Richard Powers beispielsweise kann unterhaltend, spannend und dennoch theoretisch hoch reflektiert erzählen.

Genau diese Pluralität macht in meinen Augen die Bewertung von Literatur, wie wir sie in der Jury des Literaturpreises ja vornehmen, zu einer spannenden Herausforderung, die nur allzu häufig einer Gratwanderung gleicht. Deswegen schätze ich es sehr, dass wir uns in der Jury so intensiv über die Texte austauschen und streiten können.

Dein Rat für junge Autorinnen und Autoren?

Ich habe einen dreifachen Rat: lesen – probieren – vorlesen! Jungen Autorinnen und Autoren rate ich, viel zu lesen (und nicht nur Gegenwartsliteratur). Ich bin überzeugt, dass sich so ein literarisches Gespür entwickelt, das vor leichtfertigen Plumpheiten schützt und die eigene Kreativität anregt. Dann gilt es zu probieren, was mit der heutigen Sprache und heutigen Themen geschrieben werden kann. Ich wünsche mir »Unerhörtheiten«, wie sie beispielsweise Goethes Werther, Schnitzlers Lieutenant Gustl oder Balls Lautgedichte in ihrer Zeit waren. Mit »vorlesen« meine ich generell den Austausch mit anderen Autorinnen und Autoren, aber auch mit dem Publikum. Wer nur alleine am Schreibtisch arbeitet, kann die eigene Arbeit schlecht einschätzen.

Und was liest du zurzeit?

Ich habe gerade Thomas Hettches Pfaueninsel gelesen und es sehr geschätzt, weil es nicht nur ein historischer Roman ist, sondern auch ein Roman, der kritisch reflektiert, was historische Romane können und was nicht. Ein sehr anregendes Buch.

Herzlichen Dank!


Foto: Manuel Illi bei der Laudatio für Sonja Medicus, 2. Siegerin beim Literaturpreis der Nürnberger Kulturläden, am 20. Mai 2015; © Siegfried Straßner

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