Bücherlese 2023
Haben Sie, habt Ihr auch ein Lieblingswort für das vergangene Jahr? Bei mir ist es Vertrauen. So lautet der Titel des Romans von Henry James, der im Herbst erschienen ist. Ein frühes Werk des Meistererzählers aus dem Jahr 1879, neu übersetzt von Hans-Christian Oeser und Alexandra
Titze-Grabec. Es war mir ein Fest, diesen Klassiker zu lektorieren. Für die außergewöhnliche Gestaltung und bibliophile Ausstattung hat Axel Voigt als freier Hersteller des 8 grad verlags zusammen mit dem Verleger und der Grafikerin gesorgt.
Henry James’ Geschichte spielt zum Teil in Baden-Baden, und dort habe ich noch aus anderen Gründen gedanklich viel Zeit verbracht. Mich beschäftigte die Frage, warum sich auffällig viele russische Literaten im 19. Jahrhundert in dem Kurort aufhielten. Neben anderen gehörten Turgenjew und Dostojewski zur Kurgesellschaft, und gerade an diesen beiden zeigte sich, wie tief der aktuelle Konflikt zwischen Russland und dem »Westen« in der Vergangenheit wurzelt. Nachlesen lässt sich dies mit Einblicken in Leben und Werk von sieben illustren Persönlichkeiten in meinem Buch Verheißung und Dekadenz, das im März erscheint. Ich vertraue darauf, dass die Beschäftigung mit russischsprachiger Literatur durch den schrecklichen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht obsolet wird, sondern im Gegenteil überraschende Einsichten vermittelt.
Vertrauen schenkten mir zahlreiche Autorinnen und Autoren, die ihr Manuskript in meine Hände legten.
Es sind wunderbare Bücher entstanden, von denen ich nur eines nennen möchte: Gisela Hack-Molitor, Lotte Paepcke. Als Jüdin in Nachkriegsdeutschland. Die Wiederentdeckung einer starken Stimme für Demokratie und Gleichberechtigung erinnert daran, wie wenig selbstverständlich der Einsatz für freiheitliche Werte in unserer Gesellschaft ist.
Die Arbeit für verschiedene Verlage, Agenturen, Verbände sowie Kultureinrichtungen als Lektorin oder auch Moderatorin hat mir wieder große Freude gemacht, ebenso wie der fruchtbare Austausch mit Kolleginnen und Kollegen.
Vertrauen war auch angesagt, als mein Mann und ich zwei Wochen mit dem Rucksack durch Slowenien gewandert sind – durch den Triglav-Nationalpark, die Soča entlang und bis nach Ljubljana. Jeden Tag mit heilen Knochen anzukommen, herzlich aufgenommen zu werden und dabei das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse kennenzulernen, war ein großes Glück, das nachwirkt.
Für all das und vieles mehr danke ich von Herzen.
Ich wünsche mir, dass alles Gute aus dem vergangenen Jahr zu einer Quelle der Kraft wird, die uns auch durch 2024 begleitet.