Interview: »Sieben Begegnungen mit der russischen Literatur«

Eine Reise nach Baden-Baden und in die Zeit vor 200 Jahren

Buchcover "Verheißung und Dekadenz"

Alexandra Hildebrandt, Publizistin und Autorin, hat mich zu meinem Buch Verheißung und Dekadenz interviewt. Es ist gerade im Freiburger 8 grad verlag erschienen, und ich erzähle darin über Baden-Baden und die russischsprachige Literatur im 19. Jahrhundert.

Danke für die Fragen, liebe Alexandra!

AH: Nach welchen Kriterien wurden Autoren und Werke ausgewählt?

MV: Durch die Verknüpfung zwischen Baden-Baden und russischer Literatur ergab sich die Auswahl der Autoren fast von selbst. Wie lange waren sie dort, wie oft? Hat ihr Aufenthalt sich in ihrem Schaffen niedergeschlagen? Ganz schnell stand fest, dass Turgenjew, Dostojewski und Gontscharow jeweils ein Kapitel erhalten würden. Zwei heute bei uns vergessene, aber für die russische Literatur enorm wichtige Autoren kamen dazu. Bei einem berühmten Namen stockte ich: Gogol. Er war Ukrainer in einer Zeit, in der die Ukraine zum Russländischen Imperium gehörte. Aber er hat auf Russisch geschrieben und seine Werke zählen unzweifelhaft zum Klassikerkanon. Deswegen ist auch ihm ein Kapitel gewidmet. Eines der spannendsten für mich.

Frauen begegneten mir während der gesamten Recherche leider nur als Nebenfiguren. Doch dann tauchte ein Name immer wieder auf: Alexandra Smirnowa, ebenfalls in der Ukraine geboren. Und um sie, eine verhinderte Autorin, geht es im letzten Kapitel.

Gibt es Autoren, die dir besonders nah sind – und warum?

Richtig ans Herz gewachsen ist mir Iwan Turgenjew. Früher brannte ich eher für Dostojewski. Das hat sich durch die Arbeit an dem Buch beinahe umgedreht. Turgenjew war ein großer Europäer, ein Brückenbauer. Er förderte Kollegen, regte Übersetzungen ihrer Werke an und machte die russischsprachige Literatur im Ausland bekannt. Umgekehrt sorgte er auch für Übersetzungen ins Russische. Turgenjew reiste viel, er lebte viele Jahre in Deutschland und Frankreich. Ein Kosmopolit. Sein Roman Rauch, der in Baden-Baden spielt, ist ein mutiges Plädoyer für die europäische Zivilisation.

Weshalb gerade jetzt das Buch?

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat uns in einen neuen Ost-West-Konflikt gestürzt. Gleichzeitig wirft er die Frage nach den Ursachen dieses Konflikts wieder auf. Man könnte meinen, dass das 19. Jahrhundert viel zu weit weg sei, um Antworten zu bieten. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Plötzlich war ich mittendrin in dem Streit zwischen Westlern und Slawophilen, der die russischsprachige Literatur und Publizistik vor 150 Jahren prägte – und ein verblüffend helles Licht auf die aktuelle politische Situation wirft.

Die biografischen Skizzen bieten einen individuellen Zugang zu einer Epoche mit Schlüsselereignissen für die russische Geschichte. Vom Dekabristenaufstand bis zum Krimkrieg. Sie spiegeln sich direkt oder indirekt in den literarischen Werken wider.

Was haben uns diese Werke heute noch zu sagen? Welche aktuellen Bezüge gibt es?

Nehmen wir Dostojewskis Dämonen, auf die ich eingehe. Der Roman erzählt von einem Programm des Terrors im Dienst von Ideologie und Revolution, und zwar auf ebenso beklemmende wie kunstvolle Weise. Oder Gogols Frühwerk Taras Bulba. Es spielt im Gebiet von Saporischschja, dort, wo im Sommer 2022 heftige Kämpfe um das Atomkraftwerk stattfanden. Im Text von 1835 heißt: »Von hier aus ergießen sich die Freiheit und das Kosakentum über die ganze Ukraine« … Am Beispiel von Gogol wird deutlich, wie verschlungen die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine waren und sind.

Hast du Autoren und Werke für dich (neu) entdeckt?

Manche Romane, etwa Gontscharows Oblomow, habe ich beim Wiederlesen mit ganz anderen Augen gesehen. Nicht der sprichwörtliche Faulpelz stand im Vordergrund, sondern ein Visionär. Eine Neuentdeckung war für mich Alexandra Ossipowna Smirnowa. Sie kannte die namhaften Künstler ihrer Zeit und wurde von ihnen bewundert. Im hohen Alter begann sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und fand dafür eine eigene fiktionale Form. Zwar blieb ihr Memoirenzyklus fragmentarisch, aber als »literarisches Denkmal« ist er von besonderem Wert.

Wen möchtest du erreichen?

Wer einen unterhaltsamen Einstieg in die russische Literatur sucht, den nehme ich gern mit auf meine Entdeckungsreise: Klassiker (neu) lesen, sie in Zusammenhang mit ihrem historischen Hintergrund stellen und ausloten, wie Geschichten und Geschichte verquickt sind, das ist ungeheuer spannend. In Baden-Baden trafen über eine lange Zeit hinweg ganz unterschiedliche europäische Strömungen zusammen. Es entstand eine Melange aus Kultur, Kunst, Politik und Alltag von großer Anziehungskraft, gerade auch für die Gäste aus dem Russländischen Imperium. Sieben von ihnen stelle ich ganz persönlich vor.

 

Marion Voigt, Verheißung und Dekadenz
Baden-Baden und die russische Literatur im 19. Jahrhundert

Biografische Skizzen, Freiburg, 2024

Gebunden mit Lesebändchen, 228 Seiten, mit Abbildungen, 24 Euro
ISBN 978-3-910228-07-8

Bestellung über Ihre Lieblingsbuchhandlung, im Shop der Autorenwelt oder direkt beim 8 grad verlag.

 

Dr. Alexandra Hildebrandt
Freie Publizistin und Autorin,
Nachhaltigkeitsexpertin,
Keynote Speaker

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